Gudrun Chopin: Berührende Begegnungen

Interkulturelles Miteinander

156 Seiten, Taschenbuch, 7,- €
ISBN 978-3-9821383-4-3

Über das Buch
„Im März 1981 begegnete ich Geflüchteten, die in Schlichtbauten am Rande der Gemeinde Schwanewede wohnten: jungen Männern aus Afghanistan, Indien, Pakistan und Bangladesch. Ihre Wohnverhältnisse erschraken mich; gleichzeitig wusste ich, dass ich hier nur helfen konnte, wenn ich Gleichgesinnte finden würde (…) Als im September 2015 die ehemalige Kaserne in eine Notunterkunft für etwa 1.000 Geflüchtete umgewandelt wurde, erwies sich das jahrzehntelange Bestehen unserer Initiative als sehr hilfreich (…) Wir handeln aus den unterschiedlichsten Motiven heraus (…) wir wachsen an den damit verbundenen Herausforderungen.“

Es können gar nicht genug Geschichten über das gelingende Miteinander von engagierten Menschen und Geflüchteten erzählt werden. Das macht Mut, das gibt Hoffnung. 40 Jahre ist die Ökumenische Initiative für Flüchtlingen in Schwanewede nun alt – ihr Auftrag ist bleibend aktuell. Möge dieses Buch dazu beitragen, dass unsere Augen und Herzen offen bleiben…
Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof und Ratsvorsitzender der EKD

Kirche ist von ihren Ursprüngen her eine Erzählgemeinschaft. Sie lebt Geschichten erzählend…
Martina Servatius, Pastorin in Schwanewede

Die Autorin
Gudrun Chopin war 1981 die Initiatorin der Ökumenischen Initiative für Flüchtlinge Schwanewede und ist seither in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit aktiv. Daneben engagiert sie sich bei der Schwaneweder Tafel, im Demenzcafé und in der Kirchengemeinde. Als Lehrerin i.R. organisiert sie an ihrer ehemaligen Schule weiterhin Altpapiersammlungen und Bücherbasare zugunsten von Schulen in Afghanistan (www.afghanistan-schulen.de). Für ihr vielfältiges ehrenamtliches Engagement bekam sie 2006 das Bundesverdienstkreuz. Sie verarbeitet Erlebtes durch das Schreiben von Gedichten und Geschichten.



Ein Baum hat Hoffnung, auch wenn er abgehauen ist.
Er kann wieder ausschlagen.

Die Bibel (Hiob 14,7)

Sich zurechtfinden

Roula aus Syrien möchte die B1 Prüfung schaffen. Ich unterstütze sie beim Lernen.
Das Smartphone klingelt. Ihre Mutter, die in Sahnaya bei Damaskus wohnt, erscheint auf dem Display. Roula stellt mich vor. Wir lachen, die Mutter schickt Handküsschen. Ich verstehe ihren Überschwang. Sie freut sich, dass ihre Tochter im fernen Deutschland Anschluss gefunden hat.

Nach dem Telefonat wirkt Roula traurig. Ihre Mutter lebt allein im Haus der Familie, denn ihr Vater starb im vergangenen Jahr durch einen Autounfall. Seitdem er so plötzlich unverschuldet ums Leben kam, ist für die Familie nichts mehr wie es vorher war. Zum Glück wohnt Roulas Schwester nur einige Kilometer von der Mutter entfernt und kümmert sich so gut es geht um sie.

„Es ist alles schwer“, sagt Roula. Die alleinstehende Mutter in Syrien, die deutsche Sprache, die vielen Vokabeln, die ungewisse Zukunft, das alles scheint ihr manchmal den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Sie ist es nicht gewohnt, den ganzen Tag zu Hause zu sein. Die Decke fällt ihr besonders in Corona-Zeiten auf den Kopf.

Ihre beiden Kinder Meriam und Boloss besuchen die Grundschule, doch der Unterricht findet unregelmäßig oder auf Distanz statt. Sie bemüht sich, ihre Kinder bei den Hausaufgaben zu unterstützen und sagt: „Ich muss gut lernen, damit ich ihnen helfen kann.“

In Syrien arbeitete sie zwanzig Jahre lang als Rechtsanwältin. Ihr Mann war Sportlehrer und hatte als Beamter einen sicheren Job. In Schwanewede bekam er beim Bauhof der Gemeinde eine Stelle, sodass die Familie keine Unterstützung durch das Jobcenter mehr benötigt.

Roula weiß, dass sie als 50-Jährige ihren Beruf in Deutschland nicht mehr ausüben wird. „Besteht für mich noch die Möglichkeit, eine interessante Arbeit zu finden?“ Das fragt sie sich.
Gute Deutschkenntnisse sind eine Voraussetzung für so vieles. Also konzentriert sie sich darauf, diese zu erwerben.

Sie kocht einen Tee mit syrischen Kräutern, und ich nehme dies zum Anlass, ihr die unterschiedliche Bedeutung der Wörter „Unkraut“, „Wildkraut“ und „Heilkraut“ zu erklären. Neben die neuen Vokabeln schreibt sie arabische Wörter. Mir gefallen die geschwungenen Buchstaben, die sich von rechts nach links mit Pünktchen und Häkchen aneinanderreihen.

Gerne möchte ich einen kleinen Einblick in diese fremde Buchstabenwelt gewinnen und einige arabische Ausdrücke lernen. Doch die Töne sind so fremd, die Laute so unbekannt, dass ich sie zunächst nicht aussprechen kann. Genauso fremd muss den Menschen des arabischen Kulturraums auch unsere Sprache vorkommen. Was müssen sie alles lernen! Mein Respekt und meine Geduld wachsen.

Auf dem Fensterbrett steht ein Blumentopf mit einem kleinen Olivenbäumchen. „Ich mag Olivenbäume sehr“, sagt Roula. „Unser Ort ist bekannt für die vielen Olivenbäume, von denen einige mehrere hundert Jahre alt sind. Ich bin so gerne zwischen den Bäumen spazieren gegangen.“ Sie denkt an die knorrigen Stämme, die im Wind raschelnden silbergrauen Blätter, die reifen Früchte und den Sonnenschein. In den Olivenhainen fühlte sie sich wie in einer friedlichen und schönen Welt.

Doch der Krieg hat alles verändert. Die Zerstörungen haben vor den Olivenhainen nicht haltgemacht. Die Bäume sind zum Teil verkohlt und werden für Feuerholz geschlagen und verkauft, denn Öl und Gas fehlen.

In ihrem Heimatort ist das Leben durch den Krieg sehr schwer geworden. Strom gibt es unregelmäßig, fließendes Wasser nur einmal pro Woche für wenige Stunden. Dann werden schnell die Wasserkanister auf dem Dach gefüllt. Wer es sich leisten kann, kauft zusätzlich Wasser aus Fahrzeugen, die das begehrte Gut in Behälter pumpen. Auch die Olivenbäume leiden unter der Knappheit des Wassers.

Roula und ihr Mann Moeen verloren im Krieg mehrere Angehörige. Sie wohnten mit Moeens Mutter in einem Haus. Als die Mutter schwer erkrankte, gab es aufgrund der Kriegssituation keinerlei Möglichkeit, nach Damaskus in ein Krankenhaus zu gelangen. Sie starb am nächsten Morgen.

Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Moeen bereitete sich auf die Flucht vor und machte sich auf den beschwerlichen Weg von Syrien über den Libanon in die Türkei, dann mit dem Schlauchboot nach Griechenland und schließlich über die Balkanroute nach Deutschland. Im Notaufnahmelager in Schwanewede fand er eine vorübergehende Bleibe.

Roula blieb mit den beiden zwei-und vierjährigen Kindern zurück und zog in das Haus ihrer Eltern. Sie arbeitete in der Rechtsanwaltspraxis ihres Vaters.
Moeen konnte die Notaufnahmeeinrichtung bald verlassen und bezog zusammen mit fünf syrischen Freunden eine Vierzimmerwohnung.

Das BAMF erteilte ihm die Flüchtlingseigenschaft, die es ihm erlaubte, seine Familie nachziehen zu lassen. Doch der ersehnte Familiennachzug konnte nicht sofort in die Tat umgesetzt werden, denn zur Ausreise war ein Visum erforderlich. Da die deutsche Botschaft in Damaskus geschlossen war, wandte sich Roula an die deutsche Botschaft in Beirut.

Zwei Jahre lang musste sie auf einen Termin warten, der es ihr ermöglichte, den Antrag für das Visum zu stellen. Sie erhielt schließlich das gewünschte Visum und durfte Mitte Juli 2018 auf legalem und sicherem Weg mit den beiden Kindern von Beirut nach Deutschland fliegen.

Der Abschied von ihren Eltern und ihrer Schwester in Syrien fiel so schwer, dass sie sich kaum daran erinnern mag.
Es kostet enorme Anstrengungen, im Alter von fast 50 Jahren neue Wurzeln zu schlagen.

Hinzu kommt die Corona-Pandemie. Roula singt in einem Kirchenchor, seit einem Jahr fallen alle Proben aus. Auch das von der Ökumenischen Initiative angebotene therapeutische Malen darf seit Monaten nicht stattfinden.

Ich bitte sie, mir noch einmal die Bilder zu zeigen, die sie im Gemeindehaus gemalt hat und die bereits in einer Ausstellung der Begegnungsstätte in Schwanewede zu sehen waren. Auf einem farbenfrohen Bild ist der Innenhof des Hauses ihrer Großmutter mit Kakteen, einem Granatapfelbaum und Reben mit reifen Weintrauben zu sehen. Roulas Bild strahlt Geborgenheit aus. Ein anderes Bild zeigt starke Olivenbäume, die allen Stürmen zu trotzen scheinen. Ich wünsche Roula, dass sie die Erinnerung an die Schönheit und Kraft der Olivenbäume in ihrem Herzen bewahren kann und neue Wurzeln schlagen wird.

Inzwischen hält sie das Ergebnis ihrer B1-Prüfung in Händen: Bestanden!
Sie wird weiterhin mutig in ihr neues Leben hineinwachsen.

Bin mit dem Zug gefahren und habe das Buch verschlungen. Auf dem Nachhauseweg sah ich viele ausländisch aussehende Menschen im Zug. Und ich sah sie plötzlich mit anderen Augen. (Gaby W.)

Es ist gut gelungen, in kurzen Schilderungen ein vielfältiges Bild von Chancen, Schwierigkeiten, Bewegungen und Bewegendem zu zeichnen. (Britta H.)

Auf den Punkt gebracht, ohne viel Spektakel, einfühlsam aber nicht sentimental. (Ulla C.)

Da wird bewusst: Da kommen nicht „Flüchtlinge“, da kommen Menschen, jede/jeder mit dem jeweils eigenen Schicksal, und du siehst den jeweils eigenen Menschen mit seiner Geschichte… (Ingrid F.)

Wenn man mit offenen Augen durchs Leben geht und sich traut, Kontakt aufzunehmen, kann man viel erleben. Und das eigene Leben wird so viel reicher. Schade, dass viele Menschen so viel Angst vor den/m Unbekannten haben. Umso schöner, dass es Menschen wie dich gibt, die nicht lange fragen, sondern einfach machen. (Bianca G.)

Außer einiger Pausen wegen feuchter Augen (auch ich bin Flüchtlingskind von 1950) habe ich dein Buch in eins durchgelesen. (Christel H.)

Meine Güte, du hast ein wahnsinniges Durchsetzungsvermögen! Das scheint etwas zu sein, was man mit einer Flucht-Biographie lernt: dicke Bretter bohren und nicht verzagen. (Gisela W.)